Werkverzeichnis

Für unsere Aufführung der geistlichen Werke und der Orgelmusik Mendelssohns orientieren wir uns am thematisch-systematischen Verzeichnis der musikalischen Werke Felix Mendelssohn Bartholdys der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, das 2009 erschienen ist.

Es gliedert Mendelssohns Werke nach Besetzung und Größe. Für uns interessant sind vor allem vier Werkgruppen des MWV:

  • MWV A: Groß besetzte geistliche Vokalwerke
  • MWV B: Kleiner besetzte geistliche Vokalwerke
  • MWV C: Geistliche Vokalwerke für Solostimmen mit Begleitung
  • MWV W: Orgelwerke für einen Spieler

Wir nutzen Notenmaterial des Carus-Verlags für unsere Aufführungen.

 

Kompositionen Mendelssohns

Obwohl Mendelsohn seit seiner Kindheit fast zeitlebens komponierte, wurde nur ein Teil der Werke zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Mendelssohn prüfte genau, welche Werke in welcher Zusammenstellung veröffentlicht wurden und passte bei den Vokalwerken etwa die Sprache der Texte sowie die Begleitung an die Gegebenheiten in verschiedenen Ländern an, in denen sie veröffentlicht wurden. Nach seinem Tod wurden weitere seiner Werke publiziert, jedoch bei weitem nicht alle.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Mendelssohns Werken in der öffentlichen Meinung vermehrt ihre musikalische Bedeutung abgesprochen. Damit verbunden waren erste antisemitische Tendenzen, welche die Rezeption Mendelssohns zunehmend beeinflussten. Zwar hielten sich einige seiner Werke bis weit in das 20. Jahrhundert im Aufführungsbetrieb, doch mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus fand auch dies ein Ende.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Werke nach und nach wieder rehabilitiert. Doch erst in den 1990er Jahren wurde begonnen, Mendelssohns Kompositionen sowie seine Briefe und bildnerischen Werke systematisch zu erfassen und zugänglich zu machen. 2009 war es dann soweit: das Mendelssohn-Werkverzeichnis MWV, eine systematische Ausgabe der Kompositionen Mendelssohns, war abgeschlossen.

Dabei wurden auch viele, bisher weitgehend unbekannte und nicht veröffentlichte Werke entdeckt: vorher waren etwa 350 Einzelkompositionen Mendelssohns bekannt; in der neuen Mendelssohn-Ausgabe sind nun mehr als 750 Werke aufgelistet. Sie gliedern sich anhand ihrer Besetzung in verschiedene Werkgruppen.

Etwa 90 Werke davon sind der geistlichen Vokalmusik zuzurechnen, wobei das Spektrum von den Oratorien Paulus op. 36 und Elias op. 70 für Solist:innen, Chor und groß besetztes Sinfonieorchester (Werkgruppe A) über Motetten für Chor mit und ohne Begleitung (Werkgruppe B) bis hin zu Werken für Solostimmen mit Instrumentalbegleitung (Werkgruppe C) reicht. Alle diese Werke finden im Stiftsmusik-Zyklus |:Mendelssohn:| ihren musikalischen Platz, außerdem auch die Orgelwerke in Werkgruppe W.

 

 „Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen. Felix Mendelssohn Bartholdy ist zu lang, und kann kein täglicher Gebrauchsname sein, Du mußt Dich also Felix Bartholdy nennen, weil der Name ein Kleid ist, und dieses der Zeit, dem Bedürfnis, dem Stande angemessen sein muß […] Ich wiederhole Dir: Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nichts, schon weil es nicht wahr ist.“ So schreibt Abraham Mendelssohn an seinen Sohn Felix. Dieser dachte jedoch nicht daran, den Ideen des Vaters Folge zu leisten und zeichnete hingegen zukünftige Briefe auch nur mit Felix Mendelssohn B. Um diesen Dissens von Vater und Sohn jedoch verstehen zu können, muss eine Generation weiter in die Vergangenheit geblickt werden: Abrahams Vater war Moses Mendelssohn (1729–1786), eine der Schlüsselfiguren der Aufklärung in Deutschland und Verfechter eines theologischen Rationalismus, der den Grundstein für eine mögliche Integration der Juden in die christliche Mehrheitsgesellschaft legte. Juden waren erst nach der Französischen Revolution ab 1812 auch in Preußen gleichgestellt. 1815 erfolgte nach dem Wiener Kongress allerdings der Widerruf. Vermutlich aus diesem Grund ließ Abraham Mendelssohn seine Kinder (*1805 Fanny, *1809 Felix, *1811 Rebecca) 1816 taufen, sie erhielten den Namenszusatz „Bartholdy“. Der Übertritt zum Christentum — auch Abraham und seine Frau Lea konvertierten 1822 — sollte die reibungslose Integration der Kinder in die bürgerliche Bildungsgesellschaft sicherstellen. Abraham hatte bewusst auf den Bindestrich zwischen den beiden Nachnamen verzichtet in der Hoffnung, seine Kinder würden die jüdische Version gänzlich fallenlassen. Diese jedoch bekannten sich zum Namen ihres Großvaters, auch wenn sich sowohl Felix als auch seine Schwester Fanny in ihrer kompositorischen Tätigkeit zum christlichen Glauben positionierten.

In den Jahren 1831–43 komponierte Felix Mendelssohn hauptsächlich vokale, protestantische Kirchenmusik mit Begleitung, darunter einige Choral- und Psalmkantaten. Ab 1841 war er für den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. für die Kirchenmusik am Berliner Dom zuständig. Insbesondere der acappella-Gesang war von dort an eine wichtige Aufgabe für den neugegründeten Domchor. Mendelssohns weitere, stetige Reisen nach England – 1842 war er zum siebten Mal dort – begründen zudem die Verwendung englischer Texte in seiner Kirchenmusik.

Katharina Göhr

Aufführung: 11.10.2024

Paris wurde im 19. Jahrhundert als europäisches Musikzentrum gesehen, sowohl konzertierende Musiker als auch Komponisten kamen immer wieder zu Studienaufenthalten in die Stadt oder verlegten sogar ihren Lebensmittelpunkt für längere Zeit nach Frankreich, wie etwa Franz Liszt oder Frédéric Chopin. In den 1820er Jahren wurde das Pariser Musikleben u.a. von Luigi Cherubini, italienischer Komponist und Leiter des dortigen Konservatoriums, beherrscht. Eine Bildungsreise führte auch den 16-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1825 für mehrere Monate nach Paris. Er zeigte sich jedoch in Briefen an seine Schwester Fanny als nicht sehr angetan über die Pariser Kunstauffassung, da seine musikalischen Vorbilder wie Johann Sebastian Bach dort nahezu unbekannt waren. Das Kyrie in d-Moll komponierte Mendelssohn in Paris, um es dort als Arbeitsprobe und Kompositionsstudie an Cherubini zu übergeben.

In seinen Kompositionen ließ sich Mendelssohn häufig von anderen Werken inspirieren. Er griff mehrfach Strukturelemente anderer Komponisten auf, um sie dann musikalisch weiterzuentwickeln. Auch im Kyrie sind solche Elemente erkennbar. So zitiert er u.a. ein Fagott-Solo aus W. A. Mozarts Requiem und bedient sich bei seinen Kyrie-Rufen, chromatischen Entwicklungen und Kompositionstechniken wie der Verknüpfung von Themen und deren Spiegelumkehrungen bei der wenig bekannten Missa solemnis von Cherubini. Beide zitierten Werke stehen ebenso wie Mendelssohns Kyrie in d-Moll.  

Dass Mendelssohn sein Kyrie für Cherubini geschrieben hat, um diesem zu imponieren, davon ist Carl Friedrich Zelter, Mendelssohns Kompositionslehrer in Berlin, überzeugt. So schreibt er in einem Brief an seinen Freund Goethe: „Er hat dem Cherubini ein Kyrie dort angefertigt, das sich hören und sehen läßt, um so mehr als der brave Junge, nach seinem gewandten Naturell das Stück fast ironisch in einem Geiste verfaßt hat, der, wenn er auch nicht der rechte, doch ein solcher ist, den Cherubini stets gesucht und, wenn ich nicht sehr irre, nicht gefunden hat.“

Katharina Göhr

Aufführung: 17.11.2023

Mendelssohns Oratorien: eine musikalische Hommage an die Familiengeschichte

»Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig als einen Jüdischen Confucius.« Dieser Satz stammt vom Großvater Felix Mendelssohn Bartholdys, Moses Mendelssohn (1729-1786). Als angesehener Philosoph und Übersetzer der hebräischen Bibel gilt er als ein Wegbereiter der Haskala, auch bekannt als „jüdische Aufklärung“: er befürwortete die Toleranz und das Öffnen des jüdischen Denkens für die Wissenschaft. Somit bereitete er die Familienreflektion vor, die schließlich zur Konversion seines Sohnes Abraham Mendelssohn und seiner Familie führen würde. Felix Mendelssohn Bartholdy wurde also, zusammen mit seinen Geschwistern, zwar in der christlich reformierten Tradition erzogen, blieb dennoch in seinen geistlichen Kompositionen seinen jüdischen Wurzeln treu (man denkt u.a. an Lauda Sion, an die Psalmen und an die Weihnachtskantate Vom Himmel hoch). Repräsentativ hierfür war seine Absicht, eine Oratorien- Trilogie zu komponieren, in der er drei Hauptakteure der jüdisch-christlichen Geschichte ins Zentrum stellt: Elias — der Prophet, der seinen Glauben gegen die Propheten Baals in Israel verteidigte; Christus — Gottes Sohn und der Erlöser (leider unvollendet); Paulus — der jüdische Pharisäer, der schließlich das Christentum bis hin nach Rom brachte.

Entstehung von Paulus
Die geplante Trilogie beginnt Mendelssohn im Jahr 1832 mit dem Paulus, einem Auftrag des Cäcilienvereins Frankfurt. Die Texte entwickelte Mendelssohn u.a. zusammen mit seinem Freund Julius Schubring auf Basis der Bibel. Musikalisch war Mendelssohn von historischen Vorbildern inspiriert: Einige Jahre zuvor hatten ihn in London die Oratorien Händels stark beeindruckt, außerdem hatte er 1829 die Bach’sche Matthäuspassion wiederaufgeführt (in einer gekürzten und bearbeiteten Fassung). So schwebte der Geist der spätbarocken Oratorien über der Erschaffung von Paulus.
Anders als Bach komponierte Mendelssohn seinen Paulus bewusst als Konzert. Seinem Freund Karl Klingemann schrieb er, er „sähe dieses Werk wie eine Predigt und habe vor, ein Gebet darin zu integrieren“. Dennoch wurde das Stück nie für den liturgischen Gebrauch angedacht — viel mehr wird möglicherweise für einen Moment der Konzertsaal zur Kirche, unterstützt durch die Verwendung der Luther-Choräle. In einem Brief an Eduard Devrient aus dem Jahr 1832 schreibt Mendelssohn, dass „die "kleine Christengemeinde" im ersten Teil des Paulus die Choräle singen sollte“. Dies wurde bei der Uraufführung zwar nicht der Fall, doch ist die Absicht Mendelssohns belegt, in einer Zeit der Aufklärung dem Konzertgänger eine andächtige und religiöse Atmosphäre anzubieten, die er selbst während der Aufführung der Matthäuspassion empfunden hatte.

Erster Teil
So war es Mendelssohn wichtig, Choräle aus dem Gesangsbuch einzubinden „...ganz in der Art der Bachschen Passion“ (Brief an Schubring, 22. Dezember 1832). Diese Absicht offenbart sich vom ersten Ton an, wenn der Choral „Wachet auf! Ruft uns die Stimme“ in der Ouvertüre nicht nur das Erwachen von Paulus‘ Glauben, sondern den Hörer zum Aufhorchen einlädt. Als Ruhepole übernehmen die Choräle eine ähnliche Rolle wie bei Bach, kommentierend und reflektierend, doch weisen sie unterschiedliche Formen auf. „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr“ (Nr.3) und „Dir, Herr, Dir will ich mich ergeben“ (Nr.9) sind schlicht homophon gebaut und werden colla parte vom Orchester begleitet. Diese sind deutlich im Bach’schen Stil geschrieben, wenn auch mit einer freieren Dissonanzbehandlung. Hingegen bekommt das Orchester bei den Nummern 16 („Wachet auf“) und 29 („O Jesu Christe, wahres Licht“) eine eigene Stimme in elaborierter Mendelssohn‘scher Manier und Zwischenspiele laden nach jedem Choralvers zum Nachdenken ein. Im Chor der Nr. 36 hören wir schließlich Luthers „Wir glauben all‘ an einen Gott“ als cantus firmus in der zweiten Sopranstimme, geschickt eingearbeitet in der Choralfugue „Aber unser Gott ist im Himmel“.
Doch nicht nur die Choräle knüpfen an die Oratorientradition des 18. Jahrhunderts an: die Erzählung anhand von Rezitativen teilt Mendelssohn hauptsächlich auf den Solo-Sopran und den Solo-Tenor auf und die Arien nehmen eine betrachtende Rolle ein, während die Chöre an Bachs Turba-Chöre (Latein für „Volkshaufen“) erinnern, die mitten im Geschehen stehen und aktiv an der Handlung teilnehmen. Bemerkenswert sind die anspruchsvollen Fugen, ob als kompletter Satz wie in der Doppelfuge „O, welch eine Tiefe“ (Nr. 22) und im ersten Stück des zweiten Teils (Nr. 23 „Der Erdkreis ist nun des Herrn“) oder ob als Abschnitte wie in „Der Herr wird die Tränen“ (Nr. 20).
Durch die Abwechslung von Rezitativen, Arien, Chören und Chorälen schafft Mendelssohn starke Kontraste, die nicht nur in der reinen Besetzung – von Solistin mit Streicherbegleitung bis hin zu großem Chor und Orchester — sondern auch in der komponierten Dramatik begründet sind. Man beachte beispielsweise die liebliche Sopranarie „Jerusalem“ (Nr. 7), die in Bach’scher Manier zwischen den zwei Chören „Weg, weg mit dem“ und „Steiniget ihn“ als Reflektionspause im Drama fungiert, lediglich eingeleitet durch das kurze und bremsende Tenor-Rezitativ „Siehe, ich sehe den Himmel offen“. Ebenso kontrastreich, weil unerwartet, ist die Besetzung der Nummer 14: Saul kommt nach Damaskus, und Christus erscheint ihm. Doch das tut er nicht, wie gewöhnlich, mit einer solistischen Bassstimme, sondern... durch einen vierstimmigen Frauenchor! Eigentlich wollte Mendelssohn die Stimme Jesus einem Solosopran verleihen, doch sein Freund Schubring, mit dem er den Text zum Oratorium zusammengestellt hatte, schlug einen vierstimmigen Chor vor. Mendelssohn wählte eine Zwischenlösung und dieser Frauenchor im homophonen Satz, begleitet von Holz- und Blechbläsern, ergibt den ätherischen Klang einer nicht ganz greifbaren Erscheinung.
Daraufhin wird der in der Ouvertüre angespielte Choral „Wachet auf! Ruft uns die Stimme“ vom Chor gesungen, gefolgt von Saulus‘ Begegnung mit Ananias. Die zwei großen Arien des Paulus „Herr, sei mir gnädig“ (Nr. 18) und „Ich danke dir, Herr, mein Gott“ (Nr. 20) bilden einen Höhepunkt des Oratoriums und werden von der Heilung der Blindheit belohnt. Abschluss des ersten Teils bildet die bereits erwähnte Doppelfuge „O, welch eine Tiefe“ (Nr. 22).

Zweiter Teil
Bei der Uraufführung wurde der zweite Teil von Paulus kritisiert und als qualitativ hinter dem ersten Teil zurückbleibend bewertet. Doch stechen einige Sätze hervor: Nach der fünfstimmigen Fuge der Nr. 23 unterstützen die Duette von Paulus und Barnabas (Nr. 25 und 31) und das Sopran-Arioso „Laßt uns singen von der Gnade des Herrn“ (Nr. 27) die Sicht von Mendelssohn, das Oratorium Paulus „sei eine Predigt“. Der Chor „Wie lieblich sind die Boten“ (Nr. 26) in seinem pastoralen Stil erinnert uns heutzutage an den 4. Satz von Brahms‘ Deutschem Requiem, das ca. 30 Jahre später erklingen sollte. Die Turba-Chöre 28 und 29 sowie der dramatischere Chor Nr. 38 („Hier ist des Herren Tempel“) werfen zwar den Zuhörer weniger aus der Bahn als die Chöre des ersten Teils, doch sind diese Paradebeispiele für die Fähigkeit Mendelssohns, den Chor als eine Hauptfigur der Handlung zu behandeln und dem Orchester ebenso eine „sprechende“ Rolle zu verleihen — beispielsweise wenn im Satz „Ist das nicht der zu Jerusalem verstörte“ die Streicher das aufgeregte Stimmengewirr mit Sechzehntelketten darstellen, während der vierstimmige Chor seine Botschaft erteilt.
In der Nummer 42, „Schone doch deiner selbst“, erzeugt Mendelssohn die Klangfarbe durch Komposition statt nur durch Besetzung. Der Ältestenrat, von dem sich Paulus im vorigen Rezitativ verabschiedet hat, versucht ihn nicht mit einem vierstimmigen Chorsatz zurückzuhalten, sondern — aufgrund von Unsicherheit und zugeschnürter Kehle? — zunächst durch solistische Einsätze, die nacheinander klingend eine Melodie bilden, welche erst später zusammenhängend vom Chor übernommen wird. Nach einem kurzen fugierten Satz (Nr. 43) schließt das Oratorium mit einer majestätischen Fuge „Lobe den Herrn, meine Seele“; dies aber nicht, ohne davor mit den Worten „Der Herr denket an uns und segnet uns“ die Absicht Mendelssohns ein letztes Mal verkörpert zu haben und das Gefühl einer Mischform zwischen Predigt, Andacht und geistlich-chorsinfonischem Werk zu vermitteln.

Rezeption von Paulus
Die Uraufführung in Düsseldorf fand am 22. Mai 1836 (Pfingsten) im Rahmen des Niederrheinischen Musikfests statt, mit 172 Orchestermusiker:innen und 356 Chorsänger:innen. Sie wurde vom Komponisten dirigiert und erfreute sich eines unglaublichen Erfolges. Einige kritische Stimmen beschuldigten jedoch Mendelssohn, sich zu stark an alten Vorbildern orientiert zu haben. Besonders kritisiert wurden die Choräle, doch wurden die Tonsprache und vor allem die Neuerungen, die farbige Instrumentierung, die durchgängig feine und Iyrische Melodik sowie die größere Rolle des Orchesters gelobt. Bald folgten Aufführungen im Ausland, allen voran beim Musikfest Birmingham 1837; in Großbritannien wurde Paulus schnell als weiterer Gipfel der Gattung Oratorium neben den gefeierten Händel-Oratorien Israel in Egypt und Messias betrachtet. In Deutschland wurde das Werk mit dem hiesigen Vorbild Johann Sebastian Bach in Verbindung gebracht, dessen Matthäuspassion Mendelssohn wenige Jahre zuvor wiederentdeckt und aufgeführt hatte. So schrieb Gottfried Wilhelm Fink 1837 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung 39 „Das Werk ist so absichtlich ein Händel-Bach-Mendelssohn’sches, dass es scheint als wäre es rechteigentlich dazu da, unsern Zeitgenossen die Empfänglichkeit für die Tiefen der genannten Tonhelden und die Neigung für sie zu erleichtern“. Bach, in verständlich?! Heutzutage kaum vorstellbar, sind doch die Bach’schen Passionen, die Mendelssohn für den Aufbau seiner Oratorien inspirierten, durch jahrelange Forschung, historische Aufführungspraxis und Auseinandersetzung mit dem Erbe Bachs zum festen Bestandteil des Konzertlebens geworden. Mendelssohn scheute dennoch damals keine Mühe, das Stück für die zeitgenössischen Ohren zu kürzen und die Orchestrierung zu bearbeiten. Hinzu kam, dass die Arientexte der damaligen liturgischen Wortwahl nicht mehr entsprachen; Carl Friedrich Zelter (der die Einstudierung der Matthäuspassion für die Singakademie zu Berlin übernahm) bezeichnete sie sogar als „ganz verruchten deutschen Kirchentexte“. Anders ging es den „neu“ zusammengestellten Texten des Paulus, die Mendelssohn zusammen mit seinem Freund Julius Schubring, der zu dieser Zeit als Pfarrer wirkte, dem Orientalisten Julius Fürst und dem Sänger Eduard Devrient (der Jesus der 1829er Matthäuspassion!) zusammengestellt hatte. Auch die Instrumentierung entspricht der damals gewöhnlichen Praxis und dem romantischen Geist. Der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der sich sogar bei Schumann kleine „Verbesserungen“ erlaubte, sagte über die Orchestrierungsfertigkeiten Mendelssohns: „man fasst weder Mendelssohn noch Berlioz an, denn es ist perfekt orchestriert“ (Paris, 1989).

Verbindung zur Bach’schen Tradition, zeitgenössische Texte, ein Format für den Konzertsaal und nicht zuletzt hochkarätige kompositorische Kunst sicherten Paulus innerhalb kurzer Zeit einen festen Platz im Repertoire der damals florierenden Oratorienchören. Heute ist Paulus neben den zwei weiteren Oratorien Mendelssohns ein Vermächtnis sowohl für das Erbe Bachs und Händels als auch für das Oeuvre von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Isabelle Métrope

Aufführung: 11.10.2024

Felix Mendelssohn heiratete 1837 die 19-jährige Cécile Jeanrenaud, die er während seiner Tätigkeit im Frankfurter Cäcilienverein im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Während der siebenwöchigen Hochzeitsreise entstand nicht nur ein gemeinsames Reisetagebuch des jungen Ehepaars, sondern auch die Vertonung des 42. Psalms „Wie der Hirsch schreit“. Lediglich der Schlusschor wurde nach der Rückkehr nach Leipzig fertiggestellt. Die Frage „Was betrübst du dich, meine Seele?“ ist zentrales und wiederkehrendes Moment in Mendelssohns Vertonung. Vor dem Hintergrund der sehr glücklichen Entstehungszeit darf sie wohl als rhetorische Frage interpretiert werden. Auch in seiner Vertonung des 43. Psalms „Richte mich Gott“ verwendet Mendelssohn für die abermals vorkommende Textstelle die nahezu identische Melodie und Harmonisierung. „Harre auf Gott!“ ist die Antwort und das einprägsame Motto des Psalms, das dem unruhig zweifelnden Menschen Zuversicht geben soll. Nur wenige Verse des 42. Psalms wie z.B. Ortsangaben werden von Mendelssohn nicht in Töne gesetzt. 

Das Werk besteht aus sieben Sätzen, davon drei reine Chorsätze an den zentralen Stellen am Anfang, in der Mitte und als Schlusschor. Im lyrischen Eingangschor stellt der Chor-Alt das poetische Thema vor, dieses wird kontrapunktisch von den anderen Stimmen aufgegriffen, aber auch in homophonen Einwürfen bekräftigt, wie auch im a-cappella-Abschnitt am Schluss. Die Sopran-Arie „Meine Seele dürstet nach Gott“ ist in Bach’scher Arien-Manier ein Dialog mit der Oboe. Im anschließenden Arioso mit Frauenchor wird dieses dialoghafte erneut aufgegriffen, am Ende des Satzes aber in ein Unisono von allen Frauenstimmen geführt. Im darauf folgenden Rezitativ des Solosoprans sind die „Wellen und Wasserwogen“, die vom Orchester dargestellt werden, musikalisch besonders auffällig. Im sechsten Satz, einem Quintett der Sopran-Solistin mit Männerchor, weich und liedhaft, wird diese Wellen-Motivik im Orchester wieder aufgegriffen. Das musikalische Thema des vierten Satzes wird mit dem identischen Text in den siebten Satz übernommen: „Was betrübst du dich, meine Seele“. Das Werk endet mit einer prächtigen Lobpreis-Schlussfuge: Steigerung folgt auf Steigerung und erinnert dabei an die Chorkompositionen Georg Friedrich Händels. Der Text „Preis sei dem Herrn“ ist nicht Teil der biblischen Vorlage des 42. Psalms, sondern vom Komponisten als kleine Doxologie, als Gloria Patri, angehängt. 

Katharina Göhr

Aufführung: 11.10.2024

Mendelssohns Schaffen war stets geprägt von enormer Disziplin und Fleiß sowie einer intensiven Auseinandersetzung mit dem (in diesem Fall biblischen) Stoff. Auch in späteren Jahren blieb Mendelssohn diesem Perfektionismus treu: Über sein letztes Oratorium Elias schrieb er: „Die Stücke, die ich bis jetzt umgearbeitet habe, zeigen mir doch wieder, daß ich Recht habe, nicht eher zu ruhen, bis solch ein Werk so gut ist, wie ich es nur eben machen kann, wenn auch von diesen Sachen die wenigsten Leute etwas hören oder wissen wollen, und wenn auch sehr, sehr viel Zeit dahingeht…“ Auch mit seinem 95. Psalm op. 46 gab er sich erst nach einigen Umarbeitungen zufrieden. Die erste Fassung von 1838 wurde im Februar 1839 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Es folgte eine erste Umarbeitung, die im Sommer 1839 zur ersten Drucklegung führte. Trotzdem beschlichen den Komponisten weitere Zweifel, wie er in einem Brief an seinen Verleger im Juli 1839 äußerte: „Ich komme ihnen mit diesem Psalm wohl vor wie Penelope mit ihrer Weberei, oder wie der Baumeister vom babylonischen Turm gar – aber ich kann mir nicht helfen.“ Die endgültige Fertigstellung erfolgte erst im Juli 1841, die finale Uraufführung fand im November 1841 ebenfalls im Gewandhaus statt. Endlich war ihm die bedeutendste seiner Psalmvertonungen gelungen! 

Der „originale“ Psalm 95 gliedert sich in zwei Teile: die ersten sieben Verse sind Aufruf zum Lobpreis des Herrn; die Verse acht bis elf sind als Warnung vor dem, was passieren könnte, wenn die Worte Gottes missachtet werden, zu verstehen. Mendelssohn ändert in seiner Komposition jedoch die Reihenfolge der Psalmverse und hebt dadurch dramaturgisch die inhaltlichen Unterschiede deutlich hervor.

Psalm 95 in der eigentlichen Reihenfolge (Lutherbibel 2017):

1 Kommt herzu, lasst uns dem HERRN frohlocken und jauchzen dem Hort unsres Heils! 2 Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen und mit Psalmen ihm jauchzen! 3 Denn der HERR ist ein großer Gott und ein großer König über alle Götter. 4 Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein. 5 Denn sein ist das Meer, und er hat’s gemacht, und seine Hände haben das Trockene bereitet. 6 Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem HERRN, der uns gemacht hat. 7 Denn er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand. Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet: 8 »Verstocket euer Herz nicht, wie zu Meriba geschah, wie zu Massa in der Wüste, 9 wo mich eure Väter versuchten und prüften und hatten doch mein Werk gesehen. 10 Vierzig Jahre war dies Volk mir zuwider, dass ich sprach: / Es sind Leute, deren Herz immer den Irrweg will und die meine Wege nicht lernen wollen, 11 sodass ich schwor in meinem Zorn: Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen.« 

Auffällig ist, dass der Kontrast zwischen dem ersten und elften Vers – feierlicher Aufruf versus Mahnung – von Mendelssohn gekonnt umschifft wird. Seine Vertonung beginnt mit den Versen 6 & 7a (erster Satz) in Form eines Tenorsolos, die selben Worte werden ab dem Choreinsatz wiederholt. Der Tonfall ist eher ehrfurchtsvoll und demütig denn lobpreisend, wie der Psalm eigentlich beginnen würde. Die starken Worte des Beginns verwendet der Komponist hingegen im zweiten Satz seiner Vertonung, zunächst eingeführt durch den Solosopran, dann im Chor wieder aufgenommen. Der dritte Satz, ein Duett zweier Solosoprane, spiegelt die vierte Verszeile des Psalms wider, wobei die damalige Bibelübersetzung andere Worte wählt als die Neufassung 2017.

Im vierten Satz (Verse 5–7a) greift Mendelssohn auf musikalische Elemente des ersten Satzes zurück, wie z.B. die lyrische Linie des Solotenors. Der fünfte Satz bildet den zweiten Teil des Psalms in der „korrekten“ Reihenfolge (Vers 7b–11), im Vergleich zu den ersten vier Sätzen ist er verhältnismäßig kurz. 

Wie bei einer Kantate von Mendelssohns kompositorischem Vorbild Johann Sebastian Bach wechselt die Besetzung in seinen Psalmen meistens satzweise. Im Gegensatz zu seinen anderen Psalmvertonungen (wie z.B. im 42. Psalm) erklingt im 95. Psalm jedoch kein reiner Chorsatz, sondern der Chor wechselt sich in den mit „Coro“ beschriebenen Sätzen stets mit dem Solo-Tenor ab oder es wird ein Sopran-Solo vorgeschoben, wie es im zweiten Satz zu hören ist. Auch die verwendeten Kompositionstechniken lassen auf das Bach'sche Vorbild schließen. So verwendet Mendelssohn Fugen (zweiter Satz: „Lasst uns mit danken“), einen Kanon (Ende des zweiten Satzes: Männer- und Frauenstimmen) und andere musikalische Imitationen.

Wie der Psalmtext sind auch die verwendeten Tonarten kontrastierend. Während die ersten vier Sätze in Dur-Tonarten stehen (Es–C–As–Es), moduliert Mendelssohn im vierten Satz im Orchesterzwischenspiel zur Mediante g-Moll, der Mollparallele von Es-Dur. In dieser Tonart steht der gesamte fünfte Satz und beschließt damit das Werk. Das Unisono, also die Einstimmigkeit des Chores kurz vor Ende des fünften Satzes wirkt besonders eindringlich. 

Katharina Göhr

Aufführung: 11.10.2024

Das Anthem "Why, O Lord, delay for ever“ ist 1841 in England entstanden, wo Mendelssohn sich zur Aufführung seiner Sinfonie-Kantate Lobgesang aufhielt. Die Hymne ist in der Tradition der anglikanischen Kirchenmusik komponiert. Den Auftrag zur Komposition erteilte Charles Bayles Broadley, Literat und Amateurmusiker, es handelt sich um von ihm verfasste Paraphrasen von biblischen Psalmen. Von Broadley selbst wurde seine Version des 13. Psalms als „suitable for a solo anthem“, für eine Solo-Hymne geeignet, eingestuft. Mendelssohn komponierte daraufhin eine Hymne für tiefe Frauenstimme, Chor und Orgel. Erst nach der Veröffentlichung dieser Lieder mit deutschem Text (unter dem Titel Drei geistliche Lieder, Op. 96) bat Broadley um eine Orchesterfassung des Werkes, was Mendelssohn zum Anlass von Umarbeitungen nahm. Im diesem Zusammenhang fügte er auch die Schlussfuge hinzu, die, ähnlich wie die des 42. Psalms, musikalisches Material aus den vorherigen Abschnitten verarbeitet. Die Orchesterversion erschien in englischer Sprache, die Drucklegung erfolgte erst nach Mendelssohns Tod. 

Katharina Göhr

Aufführung: 14.06.2024

Die drei Stücke aus Mendelssohns op. 23, unter dem Titel Kirchenmusik von ihm zusammengefasst, sind alle dem Genre Motette zuzuordnen, inhaltlich jedoch sehr verschieden. In der Mitte des Zyklus steht so eine Vertonung des katholischen Hymnus Ave Maria, während es sich bei den beiden äußeren Werken um Bearbeitungen protestantischer Choräle handelt. In Aus tiefer Not schrei ich zu dir, dem ersten Stück der Sammlung, ist der Einfluss Johann Sebastian Bachs auf Mendelssohns Musik durchaus vernehmbar. Es handelt sich aber wahrscheinlich nicht um eine Nachahmung, denn es ist nicht belegt, ob er Bachs gleichnamige Kantate überhaupt gekannt hat. Im Gegensatz zu Bach verwendet Mendelssohn außerdem keine Kirchentonarten, er lässt nur am Schluss kurz phrygische Harmonien erklingen. Vorherrschend ist die Tonart f-Moll. Die Motette beginnt mit einem gewöhnlichen Choral. Diese erste Strophe ist von sich melodisch bewegenden Unterstimmen gekennzeichnet, die Melodiewiederholungen der verschiedenen Zeilen werden jeweils anders harmonisiert. Es folgt eine Choralfuge auf den Text der ersten Strophe, ein sehr bewegter Hilferuf, der das Thema der ersten Choralzeile aufnimmt, aber kontrapunktierende Stimmen unterlegt. Die zweite Strophe ist eine „Aria“ für Tenor und Orgel, ein schlichtes, fast choralhaftes Lied, welches nahtlos in den wiederum schlichten Chorsatz übergeht, der die dritte Strophe des Chorals bildet. In der vierten Strophe singt der Chorsopran den cantus firmus, während die Unterstimmen in frei kontrapunktierenden Gesangslinien geführt sind. Die fünfte Strophe steht wieder im schlichten Choralsatz, die vorherige Bewegung beruhigt sich und die Motette endet mit einem trostreichen Schluss in F-Dur.

Katharina Göhr

Aufführung: 08.09.2023

Surrexit pastor bonus, MWV B 23, hat seinen Ursprung in einem Aufenthalt des jungen Mendelssohns in Rom von Herbst 1830 bis in das Frühjahr 1831. Hier war Mendelssohn oft zu Gast in der katholischen Dreifaltigkeitskirche, in der französische Nonnen den Gesang gestalteten. In einem seiner Reisebriefe an seine Familie äußerte sich Mendelssohn wenig begeistert über die Qualität der zur Aufführung kommenden Komposi-tionen und des Orgelspiels, dennoch scheint ihn der Gesang beeindruckt zu haben. Denn er veranlasste ihn dazu, am Jahresende 1830 drei Werke für Frauenchor zu schreiben, darunter das lateinische Surrexit pastor. Zu Beginn wechseln Orgelpassagen und der unbegleitete Frauenchor ab. Erst wenn die Solostimmen einsetzen, wird die Orgel zur eigenständigen Begleiterin auch während des Gesangs. Das Stück endet mit einem ausgeprägten und kunst-vollen „Halleluja“, das in barocker Anmutung viele Koloraturen nutzt.

Marie Kaufmann

Aufführung: 08.09.2023

In seinem Leben bereiste Mendelssohn mehrmals England. Er war dort als Musiker und Komponist verehrt, schätze aber auch selbst sehr Land und Leute der britischen Insel. Er kam dort auch immer wieder in Kontakt mit der anglikanischen Kirche. Von seinem englischen Verleger wurde Mendelssohn 1832 beauftragt, Gesänge für das anglikanische Morgen- und Abendgebet zu komponieren. Mendelsohn machte sich an die Arbeit, stellte aber nur das Te DeumWe praise thee, o God, MWV B 25 fertig, da er für die Komposition der restlichen Werke zu diesem Zeitpunkt keine Inspiration fand. Das Te Deum komponierte er für Chor, Orgelbegleitung (wie es der anglikanischen Tradition entsprach) und fünf Solist:innen. Das Werk strahlt Erhabenheit aus, obwohl es gerade in den solistischen Passagen auch viel Bewegung gibt. Erst 15 Jahre nach der ursprünglichen Befassung mit der Thematik kam Mendelsohn wieder auf die geplanten Kompositionen für »Morning Service« und »Evening Service« zurück, als nämlich das Te Deum veröffentlicht wurde. In diesem Zuge komponierte er dann auch die restlichen Werke, darunter das Magnificat. Auch das Magnificat wurde ursprünglich mit Orgelbegleitung komponiert. Allerdings wollte Mendelssohn die deutsche Fassung der Komposition ohne Begleitung veröffentlichen, was posthum im Jahr 1847 auch so geschah. Deshalb hören wir Mein Herz erhebet Gott, den Herrn, MWV B 59 a cappella. Es ist zu Beginn geprägt von punktierten Rhythmen, welche die im Text ausgedrückte Freude abbilden. Ähnlich werden auch die anderen Textzeilen dieses Lobgesangs der Maria kunstvoll ausgedeutet.

Immer wieder kommt in beiden anglikanischen Gesängen auch das versetzte, polyphone Einsetzen der Stimmen zum Einsatz. Im Vergleich zu den Psalmmotetten, bei denen die Textverständlichkeit zentral ist, war der Text dieser Gesänge den Gottesdienstbesucher:innen wohlbekannt, da er im täglichen Gebet wiederkehrte – deshalb ist diese kunstvolle Verbindung der Stimmen, die zulasten der Textverständlichkeit geht, hier gut möglich.

Marie Kaufmann

Aufführung: 14.06.2024

Bei den Responses to the Commandments handelt es sich um die im Gottesdienst der anglikanischen Church of England üblichen Antworten zu den Zehn Geboten. Die ursprünglich als „Kyrie Eleison” bezeichnete Motette Lord have mercy upon us ist eine 1833 veröffentlichte Gelegenheitskomposition für den Londoner Organisten und Komponisten Thomas Attwood. Die vergleichsweise kurze Motette beginnt mit zwei langen Akkorden, dem Anrufen des Herrn. Es folgt eine Vokalfuge, bei der besonders das Wort „mercy” durch mehrfache Steigerung hervortritt, zunächst durch die ansteigende Melodielinie, dann einen Tritonussprung aufwärts und schließlich durch eine langsame chromatische Linie, die einige für Mendelssohn ungewöhnliche harmonische Härten erzeugt. Der zweite Textabschnitt „and write all these the laws in our hearts” ist homophon gesetzt. Den Schluss der Motette bildet eine weitere chromatische Steigerung hin zum Wort „hearts“, sie endet mit dem Ausruf „Herr, erhör’ uns”!

Katharina Göhr

Aufführung: 08.09.2023

Im Kirchenjahr weit am Anfang steht Warum toben die Heiden, MWV B 41, eine Motette über den 2. Psalm für die Weihnachtsgottesdienste. Der Grundcharakter ist vorwärtsdrängend und energisch, wobei einen Gegenpol dazu mehrmals ruhige, in sich gekehrte Teile bilden. Mendelssohn komponierte die Motette für zwei vierstimmige Chöre und acht Solist:innen. Die musikalische Ausgestaltung dieser Besetzung ist vielfältig und offenbart etwa im Gegenüber der zwei Chöre, in einem ariosen Wechsel einstimmiger Chormelodien oder in einer Gleichzeitigkeit von Soloquartett und Chor einen großen Reichtum an Farben und Ausdrucksmöglichkeiten.

Marie Kaufmann

Aufführung: 14.06.2024

Die Sechs Sprüche op. 79 sind während Mendelssohns Zeit am Berliner Dom entstanden und vertonen Lieblingssprüche des Königs. Zunächst als einzelne Werke zu liturgischen Zwecken an hohen Feiertagen genutzt, wurden sie erst später in einer Sammlung veröffentlicht. Die Motetten sind mit jeweils nur 20–40 Takten sehr kurz, verfügen jedoch jeweils über einen eigenen musikalischen Charakter, der trotz der gedrängten Form den prägnanten Inhalt stimmungsvoll zur Geltung bringt. Entstanden zwischen 1843–46 sind die Sprüche Zeugnis einer der wichtigsten Reformen der preußischen protestantischen Liturgie: Der Vers wird nun vor dem Halleluja gesprochen oder gesungen. Diese Halleluja-Rufe, die jedem Spruch angefügt sind, passen sich der jeweiligen Stimmung an und sind eng mit dem musikalischen Gehalt des Stücks verwoben. So ist die Stimmung in Weihnachten freudig festlich, das Halleluja nach In der Passionszeit jedoch eher gedämpft und dem Anlass angemessen. Im Advent eröffnet die chronologisch dem Kirchenjahr zugeordneten Sprüche mit kunstvoll verschlungenen, polyphon gesetzten Stimmen. Während Weihnachten frohlockend das Erscheinen des Heilands preist, offenbart Am Neujahrstage feierliche und mystische Klänge, die auch durch die Tonart d-Moll unterstützt werden. In der Passionszeit und Am Karfreitag sind dem Anlass angemessen ebenfalls in Molltonarten komponiert und homophon gesetzt. Der ergreifenden Bitte nach Erbarmen steht ein ausdrucksreicher Kontrast von Erniedrigung und Erhöhung Christi gegenüber. Am Himmelfahrtstage schreitet durch die Vortragsbezeichnung allegro maestoso e moderato majestätisch einher.

Katharina Göhr

Aufführung: 08.09.2023

Einen Teil seiner Psalmvertonungen komponierte Mendelssohn in seiner Funktion als Generalmusikdirektor für kirchliche und geistliche Musik in Berlin, die er 1842 antrat. Sein Dienstherr König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen räumte der Kirchenmusik in den Gottesdiensten der preußisch unierten, evangelischen Kirche einen hohen Stellenwert ein. So sollte der Eingangspsalm der Gottesdienste ab dem ersten Advent 1843 von der Gemeinde und einem Chor im Wechsel gesungen werden – vorerst nur im Berliner Dom. Mendelssohns komponierte dafür sieben vierstimmige, schlichte Psalmchoräle mit Orgelbegleitung, die für die verschiedenen Zeiten im Kirchenjahr im Wechsel mit Gemeindegesang den Introitus bilden sollten. Allerdings stellte sich in den Adventsgottesdiensten im Berliner Dom schnell heraus, dass der Wechselgesang nicht funktionierte, da die Gemeinde bei den Psalmen nicht mitsang. So kam es, dass die neue Praxis in Berlin schnell wieder verworfen wurde, während sie in anderen Gemeinden Preußens später eingeführt wurde. Für Mendelssohn bedeutete dies, dass er neue Psalmmotetten komponieren musste, die nicht für den Wechselgesang, sondern für die Aufführung nur durch den Domchor und Solist:innen gedacht waren, nun auch ohne Orgelbegleitung. Die Vertonungen der Psalmen 2, 22, 43 und 100 sind alle in diesem Zuge für den Berliner Domchor entstanden. Sie wurden rund um den Jahreswechsel 1843/1844 komponiert – die ersten der Motetten wurden für Weihnachten und die Epiphanias-Zeit auch zügig benötigt. Im Folgejahr 1845 überarbeitete Mendelssohn einen Teil der Motetten nochmals.

Die festlich gestaltete Motette zum 100. Psalm Jauchzet dem Herrn, alle Welt, MWV B 45 galt den Sonntagsgottesdiensten der Epiphanias-Zeit. Ein fanfarenartiger, festlicher Beginn stellt das „Jauchzen“ dar. Wie die anderen Psalmmotetten ebenfalls, besteht sie aus mehreren Teilen, wobei die rahmenden Teile für vierstimmigen Chor gesetzt sind und der Mittelteil für bis zu acht Solostimmen. In der solistischen Passage wechseln sich Frauen- und Männerstimmen erst ab, jeweils im diesen Stimmlagen entsprechenden hohen oder tiefen Tonraum. Dann singen sie gemeinsam und verbinden ihre Stimmen, um gemeinsam den vollen Tonraum auszufüllen und die Musik zu öffnen. Der abschließende Einsatz des ganzen Chors beginnt leicht abgewandelt auch in einem tiefen Klangraum und erst verspätet setzt der Sopran in der hohen Lage ein.

Marie Kaufmann

Aufführung: 08.09.2023

Für die musikalische Gestaltung der Passionszeit komponierte Mendelssohn Richte mich, Gott, MWV B 46 über den 43. Psalm. Hier sind keine Solostimmen vorgesehen, sondern nur ein achtstimmiger Chor. Die Motette beginnt mit einer eindringlichen, einstimmigen Melodie in den Männerstimmen, die von den Frauenstimmen beantwortet wird, bevor sich diese Abfolge noch einmal wiederholt. Anschließend hellt sich das Stück, passend zum Wort „Licht“, deutlich auf. Ein Mittelteil im bewegten Dreierrhythmus greift den Beginn der Motette auf und wiederum wechseln sich Frauen- und Männerstimmen ab, während in der jeweils anderen Stimmgruppe eine Liegenote ausgehalten wird. Der abschießende Teil steht in Dur und strahlt Ruhe und Zuversicht aus – passend zum Text, der das „Harren“ beschreibt, das vertrauensvolle Warten auf Gott.

Marie Kaufmann

Aufführung: 08.09.2023

Die Hymne Hör mein Bitten, MWV B 49 komponierte Mendelssohn für ein englisches Publikum. Der Texter William Bartholomew, der bereits mehrere von Mendelssohns Werken ins Englische übersetzt hatte, sandte ihm 1843 seinen Text „Hear my Prayer“ zu, eine Paraphrase des 55. Psalms. Er bat Mendelssohn, den Text für eine Aufführung in Londoner Konzertsaal Crosby Hall zu vertonen, in dem es auch eine Konzertreihe für geistliche Musik gab. Mendelssohn komponierte nicht nur die gewünschte Hymne, sondern übersetze den Text wahrscheinlich auch selbst ins Deutsche. Die vier Strophen vertonte er musikalisch differenziert. Nach einem kurzen Orgelvorspiel beginnt die Hymne mit einem warmen Sopransolo, das gleichzeitig das Flehen um Hilfe und Zuversicht in einem festen Glauben ausdrückt. Bei der Textzeile „Ich irre ohne Pfad“ wird das Herumirren durch chromatische Tonbewegungen dargestellt. Die zweite Strophe ist energisch und düster. Der Chor nimmt darin kurze Motiv des Soprans auf und bestätigt diese. Anschließend übernimmt in einem rezitativischen Teil wieder der Sopran die Führung, singt die dritte Strophe und steigert sich zum expressiven „Gott, hör mein Flehn!“, das der Chor wiederum aufnimmt. Die abschließende Strophe ist vom ruhig-flehenden Charakter des Anfangs geprägt. Die Solostimme beginnt, dann bekommt der Chor größeres Gewicht und begleitet schließlich die Solostimme in einen innigen Abschluss.

Marie Kaufmann

Aufführung: 08.09.2023

In der Vertonung des 22. Psalms Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?, MWV B 51 ist Zuversicht zu spüren, was aufgrund der Verzweiflung der einleitenden Textzeile und aufgrund der ursprünglichen Nutzung in der Liturgie des Karfreitags nicht naheliegend erscheint. So ist zu Beginn der Motette dann auch die Verzweiflung hörbar, wenn der Tenor solistisch einzelne Textzeilen rezitiert, ähnlich einem Psalmgesang. Der Chor antwortet darauf, der Charakter ist trist und hoffnungslos. Im bewegten Mittelteil schildern ein Chor aus vier Solostimmen und der Haupt-chor die Leiden des abgrundtief verzweifelten Psalmbeters. Dann ändert sich die Stimmung der Motette bei der Textzeile „Aber du, Herr, sei nicht ferne“, die vom Solo-Sopran gesungen wird. Die Tonart, vorher e-Moll, ist nun strahlendes E-Dur. Der Chor antwortet und wiederum entspinnt sich ein dichtes und eindringliches Wechselspiel zwischen Soli und Tutti.

Marie Kaufmann

Aufführung: 08.09.2023

Denn er hat seinen Engeln befohlen, MWV B 53, hat eine Verbindung zu den Psalmvertonungen, die Mendelssohn für den Berliner Domchor komponierte. Ihr liegen zwei Verse aus Psalm 91 zugrunde. Ursprünglich war auch dieser Psalm als Ganzes als Eingangspsalm für die Gottesdienste im Berliner Dom vorgesehen, jedoch erschien er Mendelssohn wohl zu lange, um daraus eine Psalmmotette zu gestalten. Als er im Sommer 1844 von einem Attentat auf den preußischen König erfuhr, das dieser unversehrt überstanden hatte, kamen ihm jedoch die Verse 11 und 12 aus dem Psalm in den Sinn. Mendelssohn vertonte die beiden Psalmverse und sandte sie dem König zu. Später integrierte er die Vertonung in das Oratorium Elias. In der achtstimmigen Motette lässt Mendelssohn am Anfang geschickt Frauen- und Männerstimmen abwechseln, bevor er sie in die Achtstimmigkeit führt. Das Aufblühen des vollen Chorklangs ist eine der Besonderheiten dieser Motette, die sich zum Ende hin in einen ruhigen Schluss wendet, der das im Text ausgedrückte Grundvertrauen musikalisch spürbar werden lässt.

Marie Kaufmann

Aufführung: 14.06.2024

Die Deutsche Liturgie entstand auf Wunsch des preußischen König Friedrich Wilhelm IV. aufgrund seiner Bestrebung  der Wiederbelebung des evangelischen Gottesdienstes, der seit der Zeit des Rationalismus eher nüchtern und einförmig war. Mendelssohn war seit 1842 „General-Music-Direktor“ von Berlin und dadurch zuständig für die Gestaltung der kirchlichen und allgemein geistlichen Musik der Stadt, hauptsächlich aber für die Erneuerung der Kirchenmusik in Preußen. Die protestantische Liturgie in Musik zu setzen hielt er jedoch für eine sehr komplexe Aufgabe und so lieferte er seine Komposition erst gegen Ende seiner Amtszeit 1846. Eine zusätzliche Auftragsvergabe des Königs an Otto Nicolai und Carl Loewe verlief nicht erfolgreich, was vielleicht auch an den sehr konkreten Vorstellungen des Königs lag, einen „guten, echten Chorgesang […], d.h. gregorianischen, mit Compositionen im Kirchenstile, alten und neuen“ herzustellen. Problematisch erschien auch, dass die konkreten Stellen in der Liturgie für musikalische Einschübe unklar waren und die Musik als integrierender Teil des Gottesdienstes und eben nicht als Konzert aufgefasst werden sollte. Mendelssohn hatte während seiner dirigentischen Tätigkeit im kirchenmusikalischen Rahmen zuvor hauptsächlich auf altitalienische, also streng katholische, Musik zurückgegriffen, die sich für ihn ideal in den Gottesdienstablauf einfügte. In seiner Deutschen Liturgie kombinierte Mendelssohn daher die wesentlichen vokalen Stilmerkmale Alter Musik, die abwechslungsreiche polyphone und homophone Satzstruktur der deutschen Protestanten Bach und Schütz mit der Doppelchörigkeit der venezianischen Schule. Er erschuf zeitgenössische Musik durch Weiterentwicklung des Alten. Auch wenn Mendelssohn alle Teile der Liturgie für den Zusammenhang im Gottesdienst vertont hat, bestehen die Responsorien („Amen“, „und mit deinem Geiste“) nur aus jeweils zwei bis vier Takten im schlichten, vierstimmigen Satz. Für konzertante Aufführungen wird daher meist auf die geschlossenen, konzertanten Sätze für achtstimmigen Doppelchor zurückgegriffen. Die kleine Doxologie Ehre sei dem Vater am Anfang der Liturgie ist eines der wenigen Werke, die Mendelssohn mehrfach verwendet hat. Die achtstimmige Komposition bildet nämlich außerdem das Ende der Motette op. 69,2, der Vertonung des 100. Psalms in englischer Sprache: O Be Joyful in the Lord. Der einzige Unterschied ist die Tonart, in der Deutschen Liturgie in E-Dur, in Psalm 100 in F-Dur. Besonders ist der unisono gesetzte Anfang. Hervorzuheben ist der sehr getragene Mittelsatz des Ehre sei Gott in der Höhe, „der du die Sünde der Welt trägst“, mit einer besonders warmen Stimmung. Das Heilig besticht mit einem kunstvollen Kanon mit ausdrucksstarken Vorhalten, der sich zum jubelnden „Hosianna in der Höhe“ am Schluss der Liturgie steigert.

Katharina Göhr

Aufführung: 14.06.2024

Die kleine Doxologie Ehre sei dem Vater am Anfang der Liturgie ist eines der wenigen Werke, die Mendelssohn mehrfach verwendet hat. Die achtstimmige Komposition bildet nämlich außerdem das Ende der Motette op. 69,2, der Vertonung des 100. Psalms in englischer Sprache: O Be Joyful in the Lord. Der einzige Unterschied ist die Tonart, in der Deutschen Liturgie in E-Dur, in Psalm 100 in F-Dur.

Katharina Göhr

Aufführung: 08.09.2023

In seinem Leben bereiste Mendelssohn mehrmals England. Er war dort als Musiker und Komponist verehrt, schätze aber auch selbst sehr Land und Leute der britischen Insel. Er kam dort auch immer wieder in Kontakt mit der anglikanischen Kirche. Von seinem englischen Verleger wurde Mendelssohn 1832 beauftragt, Gesänge für das anglikanische Morgen- und Abendgebet zu komponieren. Mendelsohn machte sich an die Arbeit, stellte aber nur das Te DeumWe praise thee, o God, MWV B 25 fertig, da er für die Komposition der restlichen Werke zu diesem Zeitpunkt keine Inspiration fand. Das Te Deum komponierte er für Chor, Orgelbegleitung (wie es der anglikanischen Tradition entsprach) und fünf Solist:innen. Das Werk strahlt Erhabenheit aus, obwohl es gerade in den solistischen Passagen auch viel Bewegung gibt. Erst 15 Jahre nach der ursprünglichen Befassung mit der Thematik kam Mendelsohn wieder auf die geplanten Kompositionen für »Morning Service« und »Evening Service« zurück, als nämlich das Te Deum veröffentlicht wurde. In diesem Zuge komponierte er dann auch die restlichen Werke, darunter das Magnificat. Auch das Magnificat wurde ursprünglich mit Orgelbegleitung komponiert. Allerdings wollte Mendelssohn die deutsche Fassung der Komposition ohne Begleitung veröffentlichen, was posthum im Jahr 1847 auch so geschah. Deshalb hören wir Mein Herz erhebet Gott, den Herrn, MWV B 59 a cappella. Es ist zu Beginn geprägt von punktierten Rhythmen, welche die im Text ausgedrückte Freude abbilden. Ähnlich werden auch die anderen Textzeilen dieses Lobgesangs der Maria kunstvoll ausgedeutet.

Immer wieder kommt in beiden anglikanischen Gesängen auch das versetzte, polyphone Einsetzen der Stimmen zum Einsatz. Im Vergleich zu den Psalmmotetten, bei denen die Textverständlichkeit zentral ist, war der Text dieser Gesänge den Gottesdienstbesucher:innen wohlbekannt, da er im täglichen Gebet wiederkehrte – deshalb ist diese kunstvolle Verbindung der Stimmen, die zulasten der Textverständlichkeit geht, hier gut möglich.

Marie Kaufmann

»Romantisch« ist nicht nur eine Epochenbezeichnung, sondern auch, ja vor allem, die Charakteristik eines Seelenzustandes. Demnach könnte man durchaus einzelne langsame Sätze von Johann Sebastian Bach als »romantisch« bezeichnen.
Jon Laukvik, Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis, Teil 2

Kategorisierungen und Schemata, die wir rückblickend über die Geschichte stülpen, können sicherlich nur als Leitfaden oder Orientierungshilfe dienen, um Kunst unter den Rahmenbedingungen ihrer Zeit zu begreifen. Zweifelsohne ist aber jeder Künstler nicht nur von gesellschaftlichen Entwicklungen und Moden geprägt, sondern erlebt im Laufe seines Lebens verschiedenste Einflüsse und muss daher als Individuum in seiner Zeit erforscht werden. Für Mendelssohn muss dies ganz besonders gelten, nimmt er doch in vielen Punkten eine Sonderstellung ein.
Begabt waren im Hause Mendelssohn alle vier Kinder und dank der aufgeklärten Haltung der Eltern kam Jungen und Mädchen die gleiche Ausbildung zu. Lea und Abraham Mendelssohn legten Wert auf eine breite Allgemeinbildung, die neben den üblichen Fächern wie Mathematik, Sprachen und Geschichte auch Zeichnen, Schreiben und Sport vorsah. So sind einige wunderbare Zeichnungen und Aquarelle von Felix Mendelssohns Hand erhalten und seine zahlreichen Briefe zeugen von seinen sprachlichen Fähigkeiten. Alle vier Kinder zeigten musikalisches Talent, Fanny und Felix treten in diesem Bereich besonders hervor. Mit neun Jahren tritt Felix zum ersten Mal öffentlich auf, ab dem elften Lebensjahr beginnt er mit Feuereifer zu komponieren, unter anderem für die bei den Mendelssohns üblichen »Sonntagsmusiken«, bei denen die Kinder des Hauses mit professionellen Musikern zusammenspielten
und Felix das kleine Orchester leitete. Um den Kindern in der von Antisemitismus geprägten gesellschaftlichen Ordnung eine gute Zukunft ermöglichen zu können, ließen die Eltern sie taufen und konvertierten später selbst zum Protestantismus. Sie fügten ihrem jüdisch klingenden Familiennamen einen christlich geprägten (Bartholdy) hinzu, um dies auch nach außen sichtbar zu machen. Allerdings war die Entscheidung zu diesem Schritt keinesfalls nur Opportunismus. Sowohl seine Eltern als auch Felix später selbst sahen den Protestantismus als die ihrer aufgeklärten Geisteshaltung am meisten entsprechenden Glaubensrichtung an.
Musikalisch erhielten Felix und Fanny ihren ersten Unterricht von ihrer Mutter Lea, deren Mutter Schülerin von Kirnberger war und damit in direkter Verbindung mit der Bach-Tradition stand. In Berlin wurde Carl Friedrich Zelter (1758-1832) dann der Lehrer der Kinder. Dieser war ursprünglich Maurermeister und bildete sich autodidaktisch musikalisch fort. Seine wichtigsten »Lehrer« waren dabei Bach und Händel. Er entwickelte sich im Laufe seines Lebens zu einer der bedeutendsten kulturpolitischen Personen in Berlin, gründete und leitete die Berliner Singakademie und war zeit seines Lebens eng mit Goethe befreundet.
Für Mendelssohns Zeit waren diese Bezüge zur Barockmusik durchaus nicht üblich. Der Kompositionsstil von Bach und Händel galt als altmodisch und überkommen, daher fand ihre Musik wenig Raum in den Konzertprogrammen der Romantik. Während barocke Werke in der musikalischen Ausbildung ihren Platz hatten, um das »Handwerk« zu erlernen, waren die Hörenden kaum mehr daran gewöhnt. Daher muss Mendelssohns Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion als so bedeutend gelten und ist zugleich Zeichen dafür, wie sehr ihn die Musik des großen Meisters als Komponist geprägt hat.
Dies ist besonders in seiner Beschäftigung mit der Orgel spürbar. 1820, also im Alter von ıı Jahren, kommt Felix Mendelssohn in Kontakt mit der Orgel und erhält ungefähr eineinhalb Jahre Orgelunterricht bei August Wilhelm Bach. Anders als sein Name vermuten lässt, ist dieser nicht verwandt mit Johann Sebastian Bach, gehört aber ebenso wie Zelter zu den Bewahrern von dessen Tradition. Bei ihm lernt Mendelssohn nicht nur auf der Orgel zu spielen, sondern auch Orgelimprovisation und durch das Studium Bachscher Werke eigene Orgelmusik zu schreiben. Besonders seinen frühen Kompositionen für dieses Instrument merkt man die Beschäftigung mit Bach deutlich an. August Wilhelm  Bach war Organist an der Marienkirche in Berlin. Das dortige Instrument, an dem Mendelssohn seinen Unterricht erhielt, war von Joachim Wagner, einem Silbermann-Schüler, 1721/23 gebaut worden, wurde jedoch 1800/01 von Georg Joseph Vogler simplifiziert. Mit der Wiener Klassik entwickelte sich der Orchesterklang zum neuen Ideal. Einem Ideal, dem auch der Orgelklang folgen sollte. Im Zuge einer Simplifikation wurden Pfeifen so entfernt oder umgesetzt, dass die Orgel einen Orchesterklang möglichst gut imitieren konnte. Das Ergebnis solcher Umgestaltungen war aber häufig nicht besonders zufriedenstellend. August Wilhelm Bach bezeichnete »seine« Orgel als verstümmelt und ließ sie 1829 wieder zurückbauen.
Dies ist nur ein Beispiel fü r die Orgellandschaft, der Mendelssohn begegnete. Zwar gab es in Deutschland noch verhältnismäßig viele, auch gut erhaltene Orgeln, oft wurde aber, dem neuen Klangideal folgend, vieles daran verändert
und es entstanden Hybridinstrumente, die nicht unbedingt gut funktionierten. Die Orgel hatte ohnehin mit dem Auslaufen der Barockzeit stark an Bedeutung eingebüßt. War sie im Hochbarock instrumentenbautechnisch wie auch in den Werken, die für die Orgel geschrieben wurden, auf ihrem Höhepunkt angekommen, so trat sie mit Beginn der Klassik in den liturgischen Bereich zurück. Orchestermusik, Oper, Klaviermusik gewannen an Bedeutung. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Orgeln in der Romantik in schlechtem Zustand waren. Dies trifft auch für England zu, wohin Mendelssohn oft reiste und wo er als Komponist und Organist besonders gefeiert wurde. Mendelssohns große Stärke scheint jedoch gewesen zu sein, sich auf jedes Instrument, auf das er traf, vorurteilsfrei einzulassen und das jeweils Beste herauszuholen.
Denn zum Glück fehlt hier nirgends eine Orgel; sie sind zwar klein die untere Octave Manual und Pedal gebrochen, oder wie ich es nenne verkrüppelt, aber es sind doch Orgeln, das ist mir genug.
Natürlich war er dennoch unglücklich, wenn ihm der Zustand eines Instruments die Interpretation mancher (bachscher) Werke nicht erlaubte:
(...) weil es eigentlich eine Schande ist, dass ich die Hauptsachen von Sebastian Bach nicht spielen kann.
Kompositorisch sind die Orgelwerke Mendelssohns besonders interessant, weil sie sich vom Beginn seines Orgelunterrichts mit elf Jahren über sein ganzes Leben erstrecken und so auch seine musikalische Entwicklung abbilden. An den Satzbezeichnungen vieler Einzelwerke ist der Bezug zur barocken Orgeltradition zu erkennen: Toccata, Präludium, Fuge, Passacaglia. Doch auch zeitgenössische, also romantische Stil-Vorbilder machen sich bemerkbar. Dabei seien das Andante D-Dur (MWV W6), Andante alla Marcia B-Dur (MWV W 49) oder Nachspiel D-Dur (MWV W12) zu nennen.

Aufführung: 01.03.2024

Die Passacaglia c-moll zählt zu den ersten Orgelwerken Mendelssohns und hat ein direktes Vorbild in Bachs Passacaglia BWV 582. Neben der identischen Tonart weisen beide Kompositionen 21 Variationen über ein ostinates Motiv auf. Ein großer Unterschied der Passacaglia-Themen liegt in der Taktart: Mendelssohn setzt seine Passacaglia im für diesen Formtypus ungewöhnlichen 4/4-Takt.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Acht Jahre später entsteht neben einem Stück für Fannys Hochzeit das Nachspiel D-Dur. Das homophon gesetzte Werk erinnert an eine voll klingende Improvisation zum Abschluss eines Gottesdienstes. Man darf nicht vergessen, dass die Orgel im Grunde genommen das Instrument der Improvisation ist. Beispielsweise haben sowohl Mozart als auch Bruckner kaum »echte« Orgelwerke geschrieben, es gibt aber begeisterte Berichte über ihre Fähigkeiten, auf dem Instrument zu improvisieren. Auch Mendelssohn war ein gefeierter Improvisator.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Mit den drei Präludien und Fugen veröffentlicht Mendelssohn 1837 seinen ersten Orgelmusikdruck. Diese Werke stehen in zeitlicher Nähe zu den Sechs Präludien und Fugen für Klavier und lassen wiederum die Auseinandersetzung mit Bach erkennen. Schumann schätzte diese Stücke ebenso wegen ihres barocken Vorbilds, wie auch um ihrer poetisch-gesanglichen Qualitäten:
Mit einem Worte, die Fugen haben viel Sebastianisches und können den scharfsinnigsten Redakteur irremachen, wär’ es nicht der Gesang, der feinere Schmelz, woran man die moderne Zeit herauskennte |...] Kurz, es sind nicht allein Fugen mit dem Kopf und nach dem Rezept gearbeitet, sondern Musikstücke, dem Geiste entsprungen und nach Dichterweise ausgeführt.

Ab 1829 wird England für Mendelssohns Orgelwirken bedeutsam. Seine Freundschaft mit dem Organisten der Londoner St. Paul’s Cathedral, Thomas Attwood, gibt ihm die Gelegenheit in Großbritannien aufzutreten und inspiriert ihn zu weiterer Auseinandersetzung mit der Orgel und den kompositorischen Möglichkeiten für dieses Instrument. Ursprünglich wollte er nur drei Fugen herausgeben, aber der Verleger Breitkopf & Härtel bat ihn, traditionsgemäß Präludien hinzuzufügen.

Das klangvolle Präludium in c-moll beginnt in der melodisch geführten Oberstimme mit einem dramatischen Oktavsprung, begleitet von einem ostinaten Orgelpunkt im Pedal. Formal ist dieser Satz mehr an der Sonatenhauptsatzform orientiert: es gibt eine Art Exposition, Durchführung und Reprise.
Die anschließende Fuge hat einen intimeren und weicheren Charakter. Das Thema ist mit legato überschrieben und steht im ı12/8-Takt. Es erinnert an eine Gigue, also an einen raschen Tanzsatz.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Die beiden Einzelsätze Andante (MWV W 52) und Andante sostenuto (MWV W 26) verdeutlichen wunderbar die beiden Pole, zwischen welchen Mendelssohns Orgelmusik sich bewegt. Zum einen die kontrapunktische und polyphone Kompositionsweise des Barock, zum anderen die Iyrisch-melodische Klangwelt der Romantik. Wenn diese beiden Stile in seinen frühen Werken noch größtenteils getrennt auftreten, so ist in den späteren Orgelkompositionen zu erkennen, wie Mendelssohn sie immer mehr ineinandergreifen und zu seiner eigenen Sprache werden lässt.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Die beiden Einzelsätze Andante (MWV W 52) und Andante sostenuto (MWV W 26) verdeutlichen wunderbar die beiden Pole, zwischen welchen Mendelssohns Orgelmusik sich bewegt. Zum einen die kontrapunktische und polyphone Kompositionsweise des Barock, zum anderen die Iyrisch-melodische Klangwelt der Romantik. Wenn diese beiden Stile in seinen frühen Werken noch größtenteils getrennt auftreten, so ist in den späteren Orgelkompositionen zu erkennen, wie Mendelssohn sie immer mehr ineinandergreifen und zu seiner eigenen Sprache werden lässt.

Felicia Graf

Die beiden Einzelsätze Andante (MWV W 52) und Andante sostenuto (MWV W 26) verdeutlichen wunderbar die beiden Pole, zwischen welchen Mendelssohns Orgelmusik sich bewegt. Zum einen die kontrapunktische und polyphone Kompositionsweise des Barock, zum anderen die Iyrisch-melodische Klangwelt der Romantik. Wenn diese beiden Stile in seinen frühen Werken noch größtenteils getrennt auftreten, so ist in den späteren Orgelkompositionen zu erkennen, wie Mendelssohn sie immer mehr ineinandergreifen und zu seiner eigenen Sprache werden lässt.

Diese Entwicklungen gipfeln in den Sechs Sonaten, die seine »Art, die Orgel zu behandeln und für dieselbe zu denken« repräsentieren sollen. Als der englische Verleger Charles Coventry mit der Bitte um ein ganzes Buch mit Orgelwerken auf ihn zukommt, stimmt Mendelssohn mehr »um des leidigen Mammons willen« zu. Er sucht nach einem passenden Format für diese Stücke und schwankt zwischen den Bezeichnungen Voluntaries, Studien und Sonaten. Mit der Wahl des Titel Sechs Sonaten für die Orgel, entscheidet er sich für größer angelegte Werke. Für die Orgelmusik seiner Zeit war die Gattungsform »Sonate« ungewöhnlich und Mendelssohn komponiert keine Stücke im Sinne Beethovenscher Klaviersonaten, in denen die einzelnen Sätze in Motiven und Themen miteinander verknüpft sind. Vielmehr setzt er teilweise ältere, überarbeitete und neu komponierte Einzelsätze verschiedenen Charakters zu Sonaten zusammen. So sind diese Werke Zeugnisse von Mendelssohns jahrelanger experimenteller Auseinandersetzung mit der Orgel und ihren kompositorischen Möglichkeiten in einer Zeit, in der sich das Instrument aus dem liturgischen Kontext mehr und mehr herauszulösen beginnt ohne die Bezüge zu seinen Wurzeln im kirchlichen Gebrauch zu verlieren.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Die erste Sonate in f-moll ist ein viersätziges Werk und lebt von der Gegenüberstellung gegensätzlicher Ideen. Das Allegro beginnt mit klangvoll-akkordischen Einleitungstakten und stellt sogleich ein fugal gearbeitetes Thema vor. Unterbrochen wird der volle Orgelklang durch einen im Mezzopiano auftretenden Choral (»Was mein Gott will, das gescheh allzeit«). Orientiert an der Sonatensatzform werden diese so unterschiedlichen Klangwelten als erstes und zweites Thema durchgeführt und verarbeitet. Besonders reizvoll ist dabei die dynamische und klangliche Abstufung, die sich aus der Gegensätzlichkeit der Themen ergibt. Der Satz endet mit einer klangvollen Fortführung des im piano begonnenen Chorals. Mit dem Adagio folgt ein schlichter, melodisch gehaltener Satz - ein »Lied ohne Worte«. Dramatisch und mit feiner dynamischer Abstufung bildet das Andante, als Rezitativ angelegt, eine innerlich erlebbare Szene ab und führt in den toccatenhaften Finalsatz. In gebrochenen Akkorden und virtuosen Läufen lässt Mendelssohn hier die Orgel in ihrem vollen Wohlklang erstrahlen.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Die dritte Sonate weist ein gänzlich anderes Format auf. Sie besteht aus zwei Sätzen, wobei der musikalisch-inhaltliche Schwerpunkt deutlich auf dem meisterhaft gearbeiteten ersten Satz liegt, der zweite wie als innerer Nachklang dessen folgt. Einen Rahmen um den ersten Satz bildet ein in positivem A-Dur erklingender marschähnlicher Orgelsatz. Er wird plötzlich durchbrochen von einer Fuge über ein schroffes, durch einen Tritonus charakterisiertes Thema in a-moll. Es ist eine Choralfuge über »Aus tiefer Note schrei ich zu Dir«, der Choral erklingt im Pedal. Das zweite Fugenthema ist deutlich bewegter und setzt eine Dynamisierung der Fuge in Tempo und Lautstärke in Gang. Wenn sie in das vom Anfang wiederkehrende Marsch-Thema mündet, durchsetzt die Fuge es musikalisch und blitzt immer wieder auf. Der zweite Satz bildet einen »stillen« Schluss und hält die Choralmelodik in ferner Erinnerung.

Felicia Graf

Aufführung: 01.03.2024

Die fünfte Sonate eröffnet mit einem Choral, der, obwohl er Anklänge an »Dir, Dir, Jehova will ich singen zeigt«, doch eine Erfindung Mendelssohns ist. Wiederum eine Gelegenheit, mit der er den Bogen zwischen der kirchlichen und der instrumental-solistischen Orgeltradition schafft. Das darauffolgende Andante con moto steht kontrastierend in h-moll. Sowohl der 6/8-Takt, wie auch die staccato-Figur im Pedal geben dem Satz den Charakter eines Scherzos. Der letzte Satz hat einen rondoartigen Aufbau und führt ein improvisiert klingendes Thema in D-Dur ein, das mit triolisch bewegten Abschnitten
in Kontrast tritt.

Felicia Graf